Der Regenvogel
Joanne Bloch (retold folktale)
Wiehan de Jager

Im Lande Gabon lag am Rande eines Waldes ein kleines Dorf. Im Herzen des Waldes, in den obersten Zweigen eines riesigen Baumes, lebte ein besonderer Vogel, der Regenvogel.

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So lange die Dorfbewohner zurückdenken konnten, hatten sie immer für den Vogel gesorgt. Sie bewahrten Brot, Früchte und frische Kokosmilch für ihn auf und jede Woche brachten ihm ein paar von ihnen diese Leckereien in den Wald. Sie legten sie am Fuße des Baumes nieder und einer spielte eine Melodie auf dem Daumenklavier.

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Nach einer Weile flog der Vogel vom Wipfel des Baumes herab um zu fressen und zu trinken. Nachdem er sich gestärkt hatte, sang er das schönste aller Lieder. Dabei spreizte er seine glänzenden dunkelblauen Flügel und wenige Augenblicke später setzte Regen ein.

3

Viele, viele Jahre ging das so. Der regelmäßige Regen sorgte für üppige Ernten und im Dorf gab es nie Hunger. Doch langsam änderten sich die Dinge. Aus diesem oder jenem Grunde waren die Dorfbewohner meist zu beschäftigt und sie vernachlässigten den Regenvogel. "Es wird schon auch so regnen", sagten sie. "Wir haben den dummen Vogel lange genug verwöhnt."

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Aber die Dorfbewohner irrten sich. Als sie aufhörten, den Vogel zu versorgen, hörte auch der Regen auf. Die Felder begannen zu verdorren. Die Tiere magerten ab und wurden schwach. Trotzdem wollte niemand im Dorf in den Wald gehen, um den Vogel zu füttern. Jetzt waren sie viel zu sehr damit beschäftigt, Geld aufzutreiben, um sich in der nächsten Stadt Essen zu kaufen.

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An einem brütend heißen Tag beschloss Ketti, ein junges Mädchen aus dem Dorf, nach der Schule in den Wald zu gehen. "Im Wald wird es bestimmt ein wenig kühler sein", dachte sie. Sie ging und ging und kam endlich an den großen Baum, in dem der Regenvogel wohnte. Ketti betrachtete den Baum. Mit einem Male erinnerte sie sich, dass ihre Großmutter sie einst mit in den Wald genommen hatte, um den Vogel zu füttern. Ketti war damals noch ein kleines Kind gewesen.

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Ketti öffnete ihren Schulranzen und nahm ein Stück Brot heraus, das noch vom Frühstück übrig war. Sie legte es vorsichtig am Fuße des Baumes nieder. Sie hatte kein Daumenklavier und sang stattdessen ein altes Lied, das sie kannte, soweit sie zurückdenken konnte.

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Da raschelte es laut im Blattwerk und ein wunderschöner blauer Vogel setzte sich auf einem Ast über Kettis Kopf nieder. Er verschlang das Brot und als er fertig war, öffnete er den Schnabel und sang ein paar reine, helle Töne. Dann breitete er seine glänzenden Flügel aus und schon vernahm Ketti das Grollen des Donners.

Als sie wieder zuhause ankam, fiel endlich ein schwerer Regen und kühlte die brennend heiße rote Erde ab.

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Ketti freute sich sehr, bis sie ihren Eltern erzählte, was sie erlebt hatte. "Rede nicht solchen Unsinn!", schimpfte ihre Mutter. "Niemand glaubt mehr, dass dieser Vogel den Regen macht."
"Deine Mutter hat recht", sagte Kettis Vater. "Die Dürre ist zu Ende und alles ist gut. Verschwende nicht unser gutes Brot an diesen verfressenen alten Vogel!" Ketti wollte ihren Eltern nicht widersprechen, aber sie wusste genau, dass sie im Unrecht waren.

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"Wenn nur Großmutter noch lebte", dachte sie, "sie hätte mir geglaubt!" Aber ihre Großmutter war schon vor einigen Jahren gestorben. Das einzige, das Ketti noch von ihr besaß, war ein altes Daumenklavier.

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Zwei Wochen vergingen, ohne dass ein einziger Tropfen Regen fiel. Die Felder verdorrten wieder und die hungernden Tiere waren nur noch Haut und Knochen. Die Sonne brannte gnadenlos am gleißenden Himmel. "Es ist mir gleich, was sie sagen", rief da Ketti. "Wir brauchen den Regen und ich kehre gleich morgen in den Wald zurück, um den Vogel zu füttern."

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So holte sie am frühen Morgen ein Stück Brot und eine Handvoll Beeren aus der Küche und verließ heimlich das Haus. Sie machte sich auf den Weg ins Herz des tiefen Waldes. Sie wusste nicht, dass auch ihr Vater schon wach war. Als er sah, was seine Tochter tat, verstand er, dass sie wieder den Regenvogel füttern wollte.

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"Ich werde unserem ungezogenen Kind eine Lektion erteilen", sagte er wütend. Er ergriff Pfeil und Bogen und folgte Ketti lautlos in den Wald. Als der Vogel hinabflog, um sich am Brot und den Früchten zu laben, spannte der Vater den Bogen und schoss einen tödlichen Pfeil ab. Der Pfeil traf den Vogel mitten ins Herz. Der Vogel stieß einen gellenden Schrei aus.

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Entsetzt drehte Ketti sich um - und musste mit ansehen, wie ihr Vater tot zusammenbrach. Ketti schrie auf und drehte sich wieder zum Vogel - und konnte mit ansehen, wie der Vogel den Pfeil aus seinem glänzenden Gefieder schüttelte, um sogleich unverletzt in den höchsten Zweigen des Baumes zu verschwinden.

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Ketti rannte aus dem Wald, nur fort vom schrecklichen Ort des großen Unglücks. Alle Tiere und Menschen, die sie sah, lagen leblos auf der Erde. Mit rasendem Herzen lief sie bis zu ihrem Haus. Dort suchte sie nach dem alten Daumenklavier ihrer Großmutter. "Das ist meine einzige Hoffnung!", dachte sie verzweifelt. "Der Regenvogel ist zornig. Ich muss ihn besänftigen. Ich MUSS es tun!"

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Eine halbe Stunde später war Ketti wieder am Fuße des großen Baumes. Sie war nass von Schweiß und völlig außer Atem. Nur wenige Meter von ihr lag ihr toter Vater. Ketti wandte sich ab und begann mit zitternden Fingern Daumenklavier zu spielen. Sie spielte und spielte, bis ihr die Finger schmerzten.

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Da geschah endlich, was sie so sehnlich erhofft hatte. Der Vogel stieg vom Wipfel des Baumes herab, als wäre gar nichts geschehen. Er fraß ein paar Beeren, die noch auf der Erde lagen und sang ein paar Töne. Und während Ketti immer weiterspielte, breitete er seine großen Schwingen aus. Da hörte Ketti hinter sich ein Geräusch.

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Ihr Vater war zum Leben erweckt! "Es tut mir leid!", schluchzte er, an den blauen Vogel gewandt, wieder und wieder. Dann nahm er die Hand seiner Tochter und sie kehrten langsam ins Dorf zurück. Als sie dort ankamen, waren alle Menschen und Tiere wieder am Leben.

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An diesem Abend versammelte sich das ganze Dorf. Alle waren einer Meinung. Sie hatten etwas Wichtiges gelernt. Seither vergeht keine einzige Woche, ohne dass die Dorfbewohner in den Wald gehen und den blauen Regenvogel füttern.

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Der Regenvogel
Author - Joanne Bloch (retold folktale)
Translation - Mirko Plitt
Illustration - Wiehan de Jager
Language - German
Level - Read aloud